Fabrik in St. Dié
Die
Stadtbauplanung Le Corbusiers für St. Dié ist verworfen worden.
Bürgerliche, Arbeiter, Sozialisten, Kommunisten etc., sie alle haben
gemeinsam Front gegen das Projekt gemacht.
Des Wiederaufbauministerium selbst hat keine besonderen Anstrengungen dafür
unternommen, und nun ist St. Dié im Wiederaufbau begriffen... aber anders.
Der Plan Le Corbusiers sah die Errichtung von acht “Unités
d'Habitation“ vor. Dies war lm
Jahre 1945. Die Unité d'Habitation
von Marseille stand noch nicht und wurde heftig bekämpft.
Diese erbitterten Kämpfe haben bis zum Tage der Einweihung (Herbst 1952)
fortgedauert. Vielleicht wäre
alles anders gekommen, wenn Marseille 1945 erbaut und der Plan von St. Dié
1952
ausgearbeitet worden wäre...
Aus den Bemühungen Le Corbusiers um St. Dié ging die Freundschaft zwischen ihm und Jacques Duval, einem jungen Industriellen, der sich für den Plan von 1945 eingesetzt hatte, hervor. In der Folge beauftragte Duval Le Corbusier mit der Neuerrichtung seiner von den Deutschen zerstörten Kurzwarenfabrik. |
Der Bau ging langsam und unter grossen Hindernissen vor sich.
Aber nach ihrer Fertigstellung zeigte die kleine Fabrik von St. Dié
die
wesentlichen Elemente der modernen Architektur: alle Masse sind vom Modulor
bestimmt; eindrückliche architektonische Formgebung, intensive polychrome
Wirkung der Decken und des Holz- und Röhrenwerks, deren Farbigkeit mit dem kräftigen
Eindruck des rohen Betons in glücklichem Einklang steht.
Die Fabrik von St. Dié ist vor der Unité d'Habitation in Marseille
fertiggestellt worden. Aber beide
Bauten gleichen sich durch die gesunde Kernhaftigkeit ihrer “Epidermis“ und
die lntensitât ihrer Farben.
Le Corbusier 1946-1952, œuvre complète, W. Boesiger, Les éditions d'architecture, Zurich, 1953, p13
Hinweis:
für den Verlag für Architektur, ehemals Artemis Zürich, gilt: jüngere
Ausgaben und Copyright bei Birkhäuser - Verlag für Architektur, Basel,
Schweiz.
Schwebende
Raumskulptur
Als
deutsche Truppen am 8. November 1944 das elsässische St. Dié besetzten,
wurde die kleine Stadt in einer wahnwitzigen Zerstörungsaktion in drei Tagen
ausgelöscht. Zurück blieben Berge ausgeglühter Steine, die man zusammentrug
und nach dem alten Stadtgrundriss anordnete.
Auf
Vorschlag des jungen ortsansässigen Textilfabrikanten Jean-Jacques Duval, der
sich schon lange mit der Architektur und den stadtplanerischen Ideen der Moderne
beschäftigt hatte, wurde Le Corbusier bereits im Jahr 1945 mit der Planung für
das neue St. Die beauftragt. Er
entwarf die Vision eines klar gegliederten urbanen Gefüges, das auf den rußgeschwärzten
Trümmern entstehen sollte: Eine Stadt aus acht „Unités
d'habitation“, einem autofreien Zentrum, in dem Hochhäuser wie zeichenhafte
Landschaftsmale gen Himmel streben, und einer „Stadtmauer“ aus Fabriken am
Ufer der Meurthe. In New York wurden diese Pläne mit einer Ausstellung im
Rockefeller Center als Prototyp des französischen Wiederaufbaus gefeiert, aber
der Stadtrat von St. Die lehnte sie 1946 rigoros ab. Er entschied sich für
einen Architekten des Ortes, dessen belanglose Konzeption das provinzielle
Stadtbild manifestierte.
Nach den Plänen le Corbusiers entstand nur ein einziges Bauwerk: die Textilfabrik von Jean-Jacques Duval. Schon während der Bauphase 1948-50 sorgte sie für heftige Reaktionen. Aus dem Ausland kam Beifall, ja, sogar Begeisterung; Frankreich zeigte Skepsis und Ablehnung. Für das ultrakonservative Lager in St. Dié bestand die ungewöhnliche Architektursprache des Hauses allerdings aus hermetischen Chiffren. Für sie war die Fabrik nichts anderes, als ein „missglückter Radioapparat“. Ungewöhnlich ist das Gebäude in der Tat, denn mit den bekannten Formeln der Industriearchitektur hat es kaum etwas gemeinsam. Vom zentralen Platz neben der Kathedrale aus gesehen wirkt seine strenge Rasterfassade zwischen üppigem Grün eher wie eine Wohnanlage oder ein Sanatorium. |
|
[...]
Für Le Corbusier-Fans und Architekturstudenten ist die Fabrik inzwischen zu
einem absoluten Muss geworden, denn hier sind alle Elemente des |
Der für das Spätwerk so typische Purismus des „beton brut“ wird hier im Sinne des „symphonischen Gesamtkunstwerks“ durch Natursteinelemente und polychrome Farbflächen in Rot, Gelb, Grün und Weiß im Innen- und Außenbereich ergänzt. Diese Farbflächen akzentuieren die räumliche Artikulation der Entwurfsidee, und sie sind zugleich Stimmungsträger. Farbe und Form erscheinen als gleichberechtigte Entwurfsmittel, Farbe steigert die plastische Raumwirkung: „La couleur c’est de la dynamite“ (Le Corbusier). In diesem Kontext fungieren die einstmals smaragdgrünen Vorhänge an den vertikalen Fensterbändern der drei lichtdurchfluteten Produktionsebenen als bewegliche Farbelemente im Raum. Das robuste Sandsteinmauerwerk an beiden Giebelfassaden ist eine Referenz an den Naturstein der Vogesen-Region und gehört zum architektonischen Konzept Le Corbusiers: Das Haus ist Teil der Landschaft, ein Teil der Natur. |
Ein
besonderes Kleinod ist die noch original erhaltene Büroetage im vierten Stock:
das mit Original-Stücken von Prouvé möblierte und von Le Corbusier farblich
ausgestaltete Chefbüro und die winzigen holzgetäfelten Besprechungsräume.
Diese engen Zimmerchen mit integriertem Holztisch und schmalen Fensterschlitzen
hoch oben im Raum erinnern in ihrer Kargheit an die Mönchszellen von La
Tourette. Zu beiden Seiten des Verwaltungstrakts führen Glastüren – auch sie
sind formal dem „Modulor“ unterworfen- auf die Dachterrassen. Von dort hat
man einen herrlichen Blick auf St. Dié und die Vogesen. [...]
Als
Le Corbusier die Fabrik in St. Dié plante, waren die umgebende Natur und das
Spiel von Licht und Schatten wesentliche Kompositionselemente. Noch immer ist
diese ausgeklügelte Synthese von Form, Material und Licht faszinierend. [...]
Karin
Leydecker